Tuesday, March 9, 2010

Es war einmal ein Schüler namens Christian...

Christian (11) wohnt in Leutschenbach, Zürich. Jeden Werktag geht er mit seinem dunkelblauen, mit farbigen Autos besetzten, Schulranzen in die 5. Klasse der Primarschule in Leutschenbach. Seinen Fussball hat er auch immer dabei und so geht er jeden Morgen trippelnd über eine leere Wiese, die ihm immer etwas verlassen erscheint, um schlussendlich zu seinem neuen Schulhaus zu gelangen. Wie näher er an das Gebäude kommt, desto vorsichtiger spielt er mit seinem Fussball, denn das ganze Erdgeschoss, wie fast alles bei seinem Schulhaus, ist verglast. Christian ist genug alt um zu wissen, dass diese Fenster genug stark sind um einem Fussball standhalten zu können. Doch instinktiv wird er vorsichtiger beim spielen. Nun muss er aber in den Unterricht und er geht Richtung Treppenhaus um sich in sein Schulzimmer begeben zu können. Das Treppenhaus und seine Begrenzung erinnert Christian an den Arbeitsort seines Vaters. Dieser arbeitet in einer grossen Fabrikhalle und da sehen die Wände gleich aus wie bei seinem Schulzimmer. Irgendwie ist es ein tolles Material, denn es ist zwar nicht durchsichtig, aber das Licht scheint trotzdem immer leicht hindurch. Doch in Kombination mit dem grauen, kalten Stein, er meint es sei Beton, erinnert ihn die Atmosphäre seines Schulhauses noch mehr an die Fabrikhalle seines Vaters. Was ihn aber wirklich stört, das ist vielmehr, dass er glaubt, dass die Schüler bei diesem Bauwerk völlig vergessen wurden, nein noch schlimmer, sie stören! Denn wenn er die Schuhe ausziehen will, dann kann er sich nicht einmal setzen. Und die Schuhe stehen einfach wild auf dem Boden herum. Auch die farbigen Schulranzen an den matten Glaswänden sehen aus, als würden sie nicht hier hin gehören. Naja, aber das alles wird irgendwie unwichtig wenn er an den Turnunterricht denkt. Drei mal in der Woche darf er je eine Stunde in das oberste Geschoss des Schulhauses und die helle und aussichtsreiche Turnhalle benutzen. Am meisten freut er sich, wenn sie mit dem Lehrer an den Ringen üben. Dann fühlt sich Christian wie ein kleiner Gott der sich im Himmel austobt. Beim Fussball oder Volleyball, da hat er wieder das selbe Gefühl wie zuvor jeweils am Morgen. Irgendwie hat er Angst, dass ein Kick auf den Fussball Richtung Scheibe das ganze Schulhaus zum beben bringen könnte.
Doch am Abend, auf dem Nachhauseweg, vor allem im Winter, schaut er nach einiger Zeit zurück zu seinem Schulhaus und sieht einen riesigen Kristall, der von weitem sogar massiv aussieht.

Zum Glück ist Christian noch nicht genug alt um zu realisieren, dass es ihm vielleicht viel mehr nützen würde, wenn er in seinem Problemfach Geschichte von der öffentlichen Hand bezahlte Nachhilfe bekommen würde statt in einem völlig überteuerten Schulhaus Gefühle wie der Himmel auf Erden beim Turnen zu erleben.

3 comments:

  1. Darf ich fragen: Ist Christian eine künstliche Personifizierung oder eine reale Person? Stammt der Text aus einem Interview?

    Vielen Dank für die Auskunft,

    Hoeoer

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  2. Mit dem Titel "Es war einmal ein Schüler Namens Christian..." wollte ich eigentlich darauf hinweisen, dass die Kritik anhand einer völlig frei erfundenen Geschichte erzählerisch dargestellt wird.

    Aber es freut mich natürlich als Verfasserin, dass die Geschichte schon fast reale Gefühle erweckt...

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  3. Es ist eine schöne Geschichte gewesen. Sehr realistisch. ich frage mich in diesem Fall aber, ob sie nicht durch ihre Form Fakten vortäuscht und im Grunde nur eine Erfindung ist?

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Über das Seminar "Architekturkritik"

Architekturkritik findet an der Schnittstelle von architektonischer Produktion und Öffentlichkeit statt. Sie prägt damit die Wahrnehmung und Diskussion von Architektur in der Gesellschaft entscheidend mit. Entwerfende Architektinnen und Architekten fühlen sich bisweilen durch die schreibende Zunft falsch oder gar nicht verstanden oder ganz einfach ignoriert, was zu einer weit verbreiteten Frustration oder gar Irritation führt. Von diesem Befund ausgehend, setzt sich das Seminar „Architekturkritik“ zum Ziel, den Studierenden Möglichkeiten und Grenzen der Architekturkritik zu vermitteln. Die Lehrveranstaltung umfasst die theoretische Reflexion, Diskussionen an konkreten Objekten sowie aktive Textarbeit. Vom mündlichen Diskurs über die schriftliche Rezension bis hin zum Bild als Medium der Kritik werden die Studierenden verschiedene Formen des kritischen Umgangs mit Architektur kennen und anwenden lernen. Des Weiteren soll anhand der Lektüre und Diskussion theoretischer und historischer Texte die Praxis der Architekturkritik selbst reflektiert werden. Schliesslich wollen wir auch darüber nachdenken, inwiefern Kritik als Instrument für den Entwurf nützlich gemacht werden kann.

Das Seminar gliedert sich in drei Abschnitte. In einer ersten Phase werden die theoretischen Grundlagen anhand der Lektüre und Diskussion einschlägiger Texte und von Referaten erfahrener Kritikerinnen und Kritiker erarbeitet. In einem zweiten Schritt werden Bauten vor Ort besucht, um anhand der direkten räumlichen und visuellen Erfahrung ein Begriffsinstrumentatrium für die Kritik zu entwickeln, aber auch den sprachlichen Ausdruck zu üben. Schliesslich rückt im dritten Teil das Handwerk in den Vordergrund, indem die Studierenden eigene Rezensionen verfassen, die nach Möglichkeit veröffentlicht werden sollen.

Reto Geiser und Martino Stierli

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