Thursday, March 11, 2010

In censura veritas.

In censura veritas.


Den Auftakt meines Architekturblogs macht eine Aussage in Anlehnung an Plinius` berühmte Phrase “in vino veritas” . Der Titel “in censura veritas” (in der Kritik steckt die Wahrheit) initiiert die Zuwendung zweier substanzieller Themen in Bezug auf die Architektur. Kritik (censura) und Wahrheit (veritas).


Censura.

Wenn die Fähigkeit vorliegt, Kritik nicht als Tadelung oder Herabwürdigung wahrzunehmen, sondern sie wie im ursprünglichen Sinne (griechisch “krinein”: scheiden, unterteilen) als die Kunst der Beurteilung in Bezug auf einen Sachverhalt zu betrachten, wird die Bedeutung und Tragweite dieses Begriffs für die Architektur erst möglich. In Kants `Kritik der reinen Vernunft` meint Kritik nicht eine Beanstandung reiner Vernunftserkenntnis, sondern die Suche nach den `Bedingungen der Möglichkeit von Erkenntnis aus reiner Vernunft`. Kant besagt, und dies scheint mir sowohl für die heutige Zeit im Allgemeinen wie auch bezüglich der Architekturkritik im Spezifischen wichtig, dass alle Erkenntnis von der sinnlichen Erfahrung ausgeht. Die Sinne sind eine eigenständige Erkenntnisquelle. Sie liefern das Material, ohne das eine Erkenntnis überhaupt nicht möglich wäre. Wenn wir zusätzlich Kritik als eine Grenzziehung zwischen dem Wissbaren und dem Unwissbaren auffassen, wird mein Anspruch bezüglich der Architekturkritik ersichtlich:
Nebst einer noch so klugen und überzeugenden Differenzierung bezüglich dem Wissbaren eines Gebäudes (Themen wie Raum, Position und Orientierung, Form, Funktion, Konstruktion, Fassade, Bezug zur Umbegung ect.) soll ebenso sein Gegenpol, das Unwissbare, nie aus den Augen, besser gesagt - aus den Sinnen verloren und als gleichwertiges Urteilsfeld der Kritik beigezogen werden. Während eine exakte Analyse des Gebäudes auf verschiedenen Ebenen das Wissbare zum Vorschein bringt, so ist es vor allem und nur die emotionale Wahrnehmung aus Sicht des Betrachters, welche das Unwissende evoziert.
Peter Zumthor verwendet in seinem Buch Atmosphären dafür folgende Worte:
“Atmosphäre spricht die emotionale Wahrnehmung an, das ist die Wahrnehmung, die unglaublich rasch funktionniert, die wir Menschen offenbar haben, um zu überleben. Sofortiges Verständnis, sofortige Berührung, sofortige Ablehnung. (...) Wir kennen das ja alle: wir sehen einen Menschen und haben einen ersten Eindruck von ihm. Und ich habe gelernt: vertraue dem nicht, du musst dem Menschen eine Chance geben. Jetzt bin ich ein bischen älter und ich muss sagen, ich bin doch wieder beim ersten Eindruck. Ein bischen ist es für mich so auch mit der Architektur. Ich komme in ein Gebäude, sehe einen Raum und bekomme die Atmosphäre mit, und in Sekundenbruchteilen habe ich ein Gefühl für das, was ist.”
Wissendes und Unwissendes. Jedes Gebäude hat einen ganz eigenen, bestimmten Charakter. Ein schwierig definierbares, aber unverkenntliches Etwas, was präsent ist und auf jeden, bewusst oder unbewusst, wirkt. Der moderne Mensch ist ununterbrochen von Gebäuden umgeben. Architektur, im weitesten Sinne als Auseinandersetzung des Menschen mit gebautem Raum verstanden, beeinflusst die Stimmung und Psyche. Architektur hat für jeden Menschen eine sehr konkrete Bedeutung und bestimmt das altägliche Leben viel stärker als Musik, Literatur, ect.
Wissendes und Unwissendes. Sollte uns nicht die Qualität des Lebensumfeldes ein höchstes Anliegen sein? Sollten wir nicht eben dieses Gefühl bei aller Kritik nicht vergessen – mehr noch – es in die auf Tatsachen basierende Kritik miteinbeziehen? Bauen wir doch Gebäude nicht nur der Funktion wegen. “Architektur ist gefrorene Musik “, bemerkte einst Arthur Schopenhauer. Umgekehrt könnte man sagen, beim genaueren Hinsehen, wenn das Gebäude langsam aus seiner Eisstarre auftaut, beginnt es, sich zu bewegen. Wohin bewegt es sich? Zu welchem Takt? Ist die Musik schnell oder langsam? Bewegt es sich geschmeidig oder abrupt? Tanzt es allein oder tauscht es seine Partner mit den umliegenden Gebäuden?
Wissendes und Unwissendes. Ich bin für mehr Wissen über das Unwissende!






Veritas.

Wie oben bereits erwähnt, bekräftigt Kant: ..”erst die Einheit aus Sinnen und Verstand führt zur Erkenntnis.” Ich füge hinzu: Und durch die Erkenntnis zur Wahrheit.
Wie das unter censura erwähnte “Mysterium des Unwissens”, so liegt auch in der Materie der Veritas ein ähnlich ignoriertes Phänomen vor. Die Wahrheit bzw. die Wahrhaftigkeit eines Gebäudes.

Bezüglich der Wahrheit im Sinne eines richtigen Sachverhaltes existieren verschiedene Theorien. In den meisten Fällen handelt es sich jedoch um die Übereinstimmung zweier Relata. Die Korrespondenztheorie sieht Wahrheit als Relation (Übereinstimmung, Adäquation) zwischen zwei Bezugspunkten: Subjekt – Objekt (wie zB. Betrachter – Gebäude) In der Philosophie des Neuthomismus wird Wahrheit mit der Übereinstimmung zwischen dem Wissen und dem Seienden gleichgesetzt. Um welche Übereinstimmung handelt es sich in der Architektur, damit wir ein Gebäude für “wahr” bezeichnen oder wie es Peter Zumthor ausdrückt: “Wie kann man solche Dinge entwerfen, die eine derart schöne, selbstverständliche Präsenz haben, die mich immer wieder berührt?”

Sein, Schein und das Mass.
Gebäude sprechen. Egal, was sie sprechen oder wie sie es tun, es sollte lediglich das sein, was sie zu sagen haben und in der Sprache, der sie bemächtigt sind. Wahrheit ist demnach der Gegensatz zu Schein, als eine Natürlichkeit im Sinne von Echtheit in Bezug auf einen Bau. Oft wird der Anspruch auf Wahrheit von Kollegen missverstanden. Die fehlenden Kosten müssen in solchen Fällen als häufigstes Argument hinhalten. Handelt es sich jedoch nicht um eine Forderung wie im Sinne von Materialechtheit = Wahrheit. Vielmehr ist diese Wahrheit im Zusammenhang mit dem Begriff `Maze` aus der höfischen Literatur zu verstehen.
In der Einleitung zum Epos Parzival rät Wolfram von Eschenbach den Frauen, nie das Gefühl für das rechte Mass zu verlieren. Auch in der folgenden Handlung bestimmen die Rittertugenden und deren Wertvorstellungen das erstrebende Moralsystem. Staete (Aufrichtigkeit), muot (Mut), êre (Ehre) sowie diemüete (Demut) sind nebst dem technischen Geschick nur einige anzustrebende Eigenschaften, die sich Parzival in seiner Erziehung zum Ritter und auf der Suche nach dem Gral anzueignen hat. Und wie sieht es mit uns Architekten aus? Reichen die erlernten technischen Fähigkeiten und die ansatzweise entwerferischen Anfangserfahrungen wirklich aus, um uns nach Erhaltung des Diploms auf das Verantwortungsfeld Menschheit und Kulturgut loszuschicken, um das Bild unseres Lebensraumes mitzugestalten? Welches sind denn unsere zeitgenössischen Werte, die wir beiziehen können und wer lehrt sie uns?
In der Tat ist auf solche Fragen heutzutage nicht mehr mit wenigen Schlagwörtern wie Aufrichtigkeit, Mut ect. zu antworten. Dennoch bin ich überzeugt, dass solche Werte noch existieren und dass gerade heutzutage die Sehnsucht nach Tugend und Moral auch in Bezug auf das öffentliche Kulturgut gross ist. Liegt es nicht in der Natur des Menschen, dass er Wahrheit und Echtheit dem Unwahren und Künstlichen vorzieht?
Damit aber beim Betrachten eines Gebäudes Begriffe wie Wahrheit, Wahrhaftigkeit oder Erhabenheit zum Leben erweckt werden können, braucht es zuallererst seitens der Macher ein wiedererkanntes Bewusstsein darüber, was Wahrheit in der zeitgenössischen Architektur überhaupt bedeutet. So fordere ich: Vergesst den Anspruch an das Wahre nicht. Wahres ist nicht langweilig, nur weil ihm überflüssige, hingeworfene Attribute aus künstlerischem Übermut und verfehltem Drang nach Exklusivität fehlen. Mass halten! heisst meine Devise und zwar mit denjenigen Mitteln, die zur Verfügung stehen, mit Achtung vor der Aufgabe, Selbstkritik, dem Glauben an die Wahrheit und dem Vertrauen, die Lösung in sich zu finden. Ist es gerade das Ziel, dass der Bau aus dem Rahmen fällt – mehr zu wollen, als er in Wirklichkeit ist oder will er sich zu den anderen bloss dazugesellen und sagen `jetzt bin ich auch noch da` oder möcht er gar an etwas erinnern, etwas bewirken in den Köpfen derjenigen, die ihn betrachten.. Welches Ziel auch immer das Gebäude beabsichtigt, das grosse Ziel ist unumstritten: Ein Gesamtes schaffen, das in sich stimmt – stimmig ist, in sich massvoll ist. Nicht mehr und nicht weniger. Architekten! Haltet das Mass!

1 comment:

  1. dieser text ist zu lang für den ramen eines solchen blogs! trotzdem hab ich ihn gelesen: und es hat sich gelohnt. für mich trifft er den nagel ziemlich genau auf den kopf.
    nur: stimmt ihr den aussagen wie “Architektur ist gefrorene Musik“ zu?
    wie wärs mit "Wein ist flüssige Architektur" etc. ist euch das nicht auch zu kitschig, romantisch bzw zu beliebig?
    da halte ich mich lieber an "Architektur ist Architektur" bzw "Architektur ist gebauter Raum".

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Über das Seminar "Architekturkritik"

Architekturkritik findet an der Schnittstelle von architektonischer Produktion und Öffentlichkeit statt. Sie prägt damit die Wahrnehmung und Diskussion von Architektur in der Gesellschaft entscheidend mit. Entwerfende Architektinnen und Architekten fühlen sich bisweilen durch die schreibende Zunft falsch oder gar nicht verstanden oder ganz einfach ignoriert, was zu einer weit verbreiteten Frustration oder gar Irritation führt. Von diesem Befund ausgehend, setzt sich das Seminar „Architekturkritik“ zum Ziel, den Studierenden Möglichkeiten und Grenzen der Architekturkritik zu vermitteln. Die Lehrveranstaltung umfasst die theoretische Reflexion, Diskussionen an konkreten Objekten sowie aktive Textarbeit. Vom mündlichen Diskurs über die schriftliche Rezension bis hin zum Bild als Medium der Kritik werden die Studierenden verschiedene Formen des kritischen Umgangs mit Architektur kennen und anwenden lernen. Des Weiteren soll anhand der Lektüre und Diskussion theoretischer und historischer Texte die Praxis der Architekturkritik selbst reflektiert werden. Schliesslich wollen wir auch darüber nachdenken, inwiefern Kritik als Instrument für den Entwurf nützlich gemacht werden kann.

Das Seminar gliedert sich in drei Abschnitte. In einer ersten Phase werden die theoretischen Grundlagen anhand der Lektüre und Diskussion einschlägiger Texte und von Referaten erfahrener Kritikerinnen und Kritiker erarbeitet. In einem zweiten Schritt werden Bauten vor Ort besucht, um anhand der direkten räumlichen und visuellen Erfahrung ein Begriffsinstrumentatrium für die Kritik zu entwickeln, aber auch den sprachlichen Ausdruck zu üben. Schliesslich rückt im dritten Teil das Handwerk in den Vordergrund, indem die Studierenden eigene Rezensionen verfassen, die nach Möglichkeit veröffentlicht werden sollen.

Reto Geiser und Martino Stierli

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